DR. MED.
HENRICH STIFTUNG
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Newsletter ProVegan: Ausgabe 37/2019

Lesenswerter Artikel: „Die industrielle Landwirtschaft ist eines der schlimmsten Verbrechen in der Geschichte“ von Yuval Noah Harari

Deutsche Übersetzung:

 

Das Schicksal von Nutztieren ist eine der drängendsten ethischen Fragen unserer Zeit. Dutzende Milliarden fühlender Wesen, jedes mit komplexen Empfindungen und Emotionen, leben und sterben auf einer Produktionslinie.

 

Tiere sind die Hauptopfer der Geschichte, und die Behandlung von domestizierten Tieren in Industriebetrieben ist vielleicht das schlimmste Verbrechen in der Geschichte. Der Marsch des menschlichen Fortschritts ist mit toten Tieren übersät. Bereits vor Zehntausenden von Jahren waren unsere steinzeitlichen Vorfahren für eine Reihe von ökologischen Katastrophen verantwortlich. Als die ersten Menschen vor etwa 45.000 Jahren Australien erreichten, waren 90 % der Großtiere schnell vom Aussterben bedroht. Dies war der erste signifikante Einfluss, den Homo Sapiens auf das Ökosystem des Planeten hatte. Es war nicht der letzte.

 

Vor ungefähr 15.000 Jahren kolonisierten die Menschen Amerika und löschten dabei ungefähr 75 % ihrer großen Säugetiere aus. Zahlreiche andere Arten verschwanden aus Afrika, aus Eurasien und von den unzähligen Inseln vor ihren Küsten. Die archäologischen Aufzeichnungen von Land zu Land erzählen die gleiche traurige Geschichte. Die Tragödie beginnt mit einer Episode, in der eine reiche und vielfältige Population von Grosstieren ohne Spuren von Homo sapiens gezeigt wird. In der zweiten Episode tauchen Menschen auf, die von einem versteinerten Knochen, einer Speerspitze oder vielleicht einem Lagerfeuer zeugen. Es folgt die dritte Episode, in der Männer und Frauen im Mittelpunkt stehen und die meisten grossen Tiere zusammen mit vielen kleineren verschwunden sind. Insgesamt rottete der Mensch etwa 50% aller großen terrestrischen Säugetiere des Planeten aus, bevor sie das erste Weizenfeld gepflanzt und das erste Metallwerkzeug geformt hatten.

 

Der nächste grosse Meilenstein in der Mensch-Tier-Beziehung war die landwirtschaftliche Revolution: Der Prozess, mit dem wir uns von nomadischen Jägern und Sammlern abgewandt haben und Bauern in stationären Siedlungen wurden. Es ging um das Erscheinen einer völlig neuen Lebensform auf der Erde: domestizierte Tiere. Anfangs scheint diese Entwicklung von untergeordneter Bedeutung zu sein, da der Mensch nur weniger als 20 Säugetier- und Vogelarten domestizieren konnte, verglichen mit den unzähligen Tausenden von Arten, die „wild“ blieben. Doch im Laufe der Jahrhunderte wurde diese neuartige Lebensform zur Norm. Heutzutage sind mehr als 90 % aller grossen Tiere domestiziert („gross“ bezeichnet Tiere, die mindestens ein paar Kilogramm wiegen). Betrachten Sie zum Beispiel das Huhn. Vor zehntausend Jahren war es ein seltener Vogel, der auf kleine Nischen in Südasien beschränkt war. Heute leben Milliarden von Hühnern auf fast allen Kontinenten und Inseln, mit Ausnahme der Antarktis. Das domestizierte Huhn ist wahrscheinlich der am weitesten verbreitete Vogel in den Annalen des Planeten Erde. Wenn Sie den Erfolg an Zahlen messen, sind Hühner, Kühe und Schweine die erfolgreichsten Tiere aller Zeiten.

 

Leider bezahlten domestizierte Arten ihren beispiellosen kollektiven Erfolg mit einem beispiellosen individuellen Leiden. Das Tierreich kennt seit Millionen von Jahren viele Arten von Schmerz und Elend. Doch die Agrarrevolution schuf völlig neue Arten von Leiden, die sich mit dem Lauf der Generationen verschlimmerten.

 

Auf den ersten Blick scheinen domestizierte Tiere viel besser dran zu sein als ihre wilden Cousins ​​und Vorfahren. Wilde Büffel verbringen ihre Tage auf der Suche nach Nahrung, Wasser und Schutz und sind ständig von Löwen, Parasiten, Überschwemmungen und Dürren bedroht. Domestizierte Rinder hingegen geniessen die Pflege und den Schutz von Menschen. Die Menschen versorgen Kühe und Kälber mit Futter, Wasser und Unterkünften, behandeln ihre Krankheiten und schützen sie vor Raubtieren und Naturkatastrophen. Zwar finden sich die meisten Kühe und Kälber früher oder später im Schlachthof wieder. Aber macht das ihr Schicksal schlimmer als das der wilden Büffel? Ist es besser, von einem Löwen gefressen zu werden, als von einem Mann geschlachtet zu werden? Sind Krokodilzähne freundlicher als Stahlklingen?

 

Was die Existenz domestizierter Nutztiere besonders grausam macht, ist nicht nur die Art, wie sie sterben, sondern vor allem, wie sie leben. Zwei konkurrierende Faktoren haben die Lebensbedingungen von Nutztieren geprägt: Einerseits wollen Menschen Fleisch, Milch, Eier, Leder, tierische Arbeitskraft und Vergnügen. Zum anderen muss der Mensch das Überleben und die Fortpflanzung von Nutztieren langfristig sichern. Theoretisch sollte dies die Tiere vor extremer Grausamkeit schützen. Wenn ein Bauer seine Kuh melkt, ohne sie mit Futter und Wasser zu versorgen, nimmt die Milchproduktion ab und die Kuh selbst stirbt schnell. Leider kann der Mensch den Nutztieren enormes Leid auf andere Weise zufügen, auch während er ihr Überleben und ihre Reproduktion gewährleistet. Die Wurzel des Problems ist, dass domestizierte Tiere von ihren wilden Vorfahren viele physische, emotionale und soziale Bedürfnisse geerbt haben, die auf Farmen überflüssig sind. Landwirte ignorieren diese Bedürfnisse routinemässig, ohne einen wirtschaftlichen Preis dafür zu zahlen. Sie sperren Tiere in winzige Käfige, verstümmeln ihre Hörner und Schwänze, trennen Mütter von ihren Kindern und züchten selektiv Monstrositäten. Die Tiere leiden sehr, aber sie leben weiter und vermehren sich.

 

Widerspricht das nicht den grundlegendsten Prinzipien der darwinistischen Evolution? Die Evolutionstheorie behauptet, dass sich alle Instinkte und Triebe im Interesse des Überlebens und der Fortpflanzung entwickelt haben. Wenn ja, beweist die kontinuierliche Fortpflanzung von Nutztieren nicht, dass alle ihre tatsächlichen Bedürfnisse erfüllt werden? Wie kann eine Kuh ein „Bedürfnis“ haben, das für das Überleben und die Fortpflanzung nicht unbedingt notwendig ist?

 

Es ist sicher richtig, dass sich alle Instinkte und Triebe entwickelt haben, um dem evolutionären Druck des Überlebens und der Fortpflanzung zu begegnen. Wenn dieser Druck jedoch nachlässt, verschwinden die Instinkte und Triebe, die sie geformt haben, nicht sofort. Auch wenn sie nicht mehr zum Überleben und zur Fortpflanzung beitragen, prägen sie weiterhin die subjektiven Erfahrungen des Tieres. Die physischen, emotionalen und sozialen Bedürfnisse heutiger Kühe, Hunde und Menschen spiegeln nicht ihre gegenwärtigen Verhältnisse wider, sondern den evolutionären Druck, dem ihre Vorfahren vor Zehntausenden von Jahren ausgesetzt waren. Warum lieben moderne Menschen Süßigkeiten so sehr? Nicht, weil wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts Eis und Schokolade zu uns nehmen müssen, um zu überleben. Es liegt vielmehr daran, dass, wenn unsere steinzeitlichen Vorfahren auf süsse, gereifte Früchte stiessen, es am sinnvollsten war, so viele wie möglich davon so schnell wie möglich zu essen. Warum fahren junge Männer rücksichtslos, engagieren sich in gewalttätigen Auseinandersetzungen und hacken vertrauliche Internetseiten? Weil sie alten genetischen Prinzipien gehorchen. Vor siebzigtausend Jahren hat ein junger Jäger, der sein Leben riskierte, um ein Mammut zu jagen, alle seine Konkurrenten in den Schatten gestellt und die Gunst der lokalen Schönheit gewonnen - und wir stecken jetzt mit seinen Macho-Genen fest.

 

Genau die gleiche Evolutionslogik prägt das Leben von Kühen und Kälbern in unseren Industriebetrieben. Uralte Wildtiere waren soziale Tiere. Um zu überleben und sich zu reproduzieren, mussten sie effektiv kommunizieren, kooperieren und miteinander konkurrieren. Wie alle sozialen Säugetiere hatten die Wildtiere spielerisch die notwendigen sozialen Fähigkeiten erlernt. Welpen, Kätzchen, Kälber und Kinder lieben es zu spielen, weil die Evolution diesen Drang in sie eingepflanzt hat. In freier Wildbahn mussten sie spielen. Andernfalls würden sie nicht die sozialen Fähigkeiten erlernen, die für das Überleben und die Fortpflanzung von entscheidender Bedeutung sind. Wenn ein Kätzchen oder ein Kalb mit einer seltenen Mutation geboren wurde, die sie gleichgültig gegenüber dem Spielen machte, war es unwahrscheinlich, dass sie überlebten oder sich fortpflanzten, so wie sie überhaupt nicht existieren würden, wenn ihre Vorfahren diese Fähigkeiten nicht erworben hätten. Ebenso hat die Evolution in Welpen, Kätzchen implantiert, Kälber und Kinder den überwältigenden Wunsch verankert, sich an ihre Müttern zu binden. Eine zufällige Mutation, die die Mutter-Kind-Bindung schwächt, war ein Todesurteil.

 

Was passiert, wenn Bauern jetzt ein junges Kalb nehmen, es von ihrer Mutter trennen, es in einen winzigen Käfig sperren, es gegen verschiedene Krankheiten impfen, es mit Nahrung und Wasser versorgen und es dann, wenn es alt genug ist, künstlich besamen? Sperma? Aus objektiver Sicht braucht dieses Kalb weder mütterliche Bindungen noch Spielkameraden, um zu überleben und sich zu vermehren. Alle ihre Bedürfnisse werden von ihren menschlichen Meistern gedeckt. Aus subjektiver Sicht verspürt das Kalb jedoch immer noch einen starken Drang, sich an seine Mutter zu binden und mit anderen Kälbern zu spielen. Wenn diese Bedürfnisse nicht erfüllt werden, leidet das Kalb sehr.

 

Dies ist die grundlegende Lehre der Evolutionspsychologie: Ein vor Tausenden von Generationen geprägtes Bedürfnis wird weiterhin subjektiv empfunden, auch wenn es für das Überleben und die Fortpflanzung in der Gegenwart nicht mehr notwendig ist. Tragischerweise gab die Agrarrevolution dem Menschen die Macht, das Überleben und die Reproduktion domestizierter Tiere zu sichern und dabei ihre subjektiven Bedürfnisse zu ignorieren. Infolgedessen sind domestizierte Tiere quantitativ die erfolgreichsten Tiere der Welt und gleichzeitig individuell die elendesten Tiere, die es je gegeben hat.

 

Die Situation hat sich in den letzten Jahrhunderten immer nur verschlechtert, in denen die traditionelle Landwirtschaft der industriellen Landwirtschaft Platz machte. In traditionellen Gesellschaften wie dem alten Ägypten, dem Römischen Reich oder dem mittelalterlichen China hatten die Menschen ein sehr eingeschränktes Verständnis für Biochemie, Genetik, Zoologie und Epidemiologie. Folglich waren ihre manipulativen Kräfte begrenzt. In mittelalterlichen Dörfern liefen Hühner frei zwischen den Häusern, pickten Samen und Würmer vom Misthaufen und bauten Nester in der Scheune. Wenn ein ehrgeiziger Bauer versucht hätte, 1.000 Hühner in einem überfüllten Stall einzusperren, hätte dies wahrscheinlich zu einer tödlichen Vogelgrippe-Epidemie geführt, bei der alle Hühner und auch viele Dorfbewohner ausgerottet worden wären. Kein Priester, Schamane oder Hexendoktor hätte es verhindern können. Aber sobald die moderne Wissenschaft die Geheimnisse von Vögeln, Viren und Antibiotika entschlüsselt hatte, konnten Menschen damit beginnen, Tiere extremen Lebensbedingungen auszusetzen. Mit Hilfe von Impfungen, Medikamenten, Hormonen, Pestiziden, zentralen Klimaanlagen und Futterautomaten ist es jetzt möglich, zehntausende Hühner in winzige Käfige zu stopfen und Fleisch und Eier mit beispielloser Effizienz zu produzieren.

 

Das Schicksal von Tieren in solchen Industrieanlagen ist zu einer der drängendsten ethischen Fragen unserer Zeit geworden, auch in Bezug auf die Anzahl der betroffenen Tiere. Heutzutage leben die meisten grossen Tiere auf Industriebetrieben. Wir stellen uns vor, dass auf unserem Planeten Löwen, Elefanten, Wale und Pinguine leben. Das mag für den Sender National Geographic, Disney-Filme und Kindermärchen zutreffen, aber für die reale Welt nicht mehr. In der Welt leben 40.000 Löwen, im Gegensatz dazu gibt es rund 1 Milliarde domestizierte Schweine. 500.000 Elefanten und 1,5 Milliarden domestizierte Kühe; 50 Millionen Pinguine und 20 Milliarden Hühner.

 

Im Jahr 2009 gab es in Europa 1,6 Milliarden Wildvögel, wenn man alle Arten zusammengerechnet. Im selben Jahr züchtete die europäische Fleisch- und Eiindustrie 1,9 Milliarden Hühner. Insgesamt wiegen die domestizierten Tiere der Welt etwa 700 Millionen Tonnen, verglichen mit 300 Millionen Tonnen Menschen und weniger als 100 Millionen Tonnen bei grossen Wildtieren.

 

Aus diesem Grund ist das Schicksal von Nutztieren kein ethisches Nebenproblem. Es betrifft die Mehrheit der grossen Kreaturen der Erde: Dutzende Milliarden Lebewesen, jedes mit einer komplexen Welt von Empfindungen und Emotionen, die jedoch auf einer industriellen Produktionslinie leben und sterben. Vor vierzig Jahren veröffentlichte der Moralphilosoph Peter Singer sein anerkanntes Buch Animal Liberation, das viel dazu beigetragen hat, die Meinung der Menschen zu diesem Thema zu ändern. Singer behauptete, dass die industrielle Landwirtschaft für mehr Schmerz und Elend verantwortlich ist als alle Kriege der Geschichte zusammen.

 

Die wissenschaftliche Erforschung der Tiere hat in dieser Tragödie eine miserable Rolle gespielt. Die wissenschaftliche Gemeinschaft hat ihr wachsendes Wissen über Tiere hauptsächlich genutzt, um deren Leben im Dienst der menschlichen Industrie effizienter zu gestalten. Dasselbe Wissen hat jedoch zweifelsfrei gezeigt, dass Nutztiere fühlende Wesen sind, mit komplexen sozialen Beziehungen und ausgefeilten psychologischen Denkmustern. Sie mögen nicht so intelligent sein wie wir, aber sie kennen ganz sicher Schmerz, Angst und Einsamkeit. Auch sie können leiden und auch sie können glücklich sein.

 

Es ist höchste Zeit, dass wir uns diese wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Herzen nehmen, denn mit zunehmender menschlicher Macht wächst auch unsere Fähigkeit, anderen Tieren Schaden zuzufügen oder Nutzen daraus zu ziehen. Für 4 Milliarden Jahre war das Leben auf der Erde von natürlicher Auslese bestimmt. Jetzt wird es zunehmend von menschlichem intelligentem Design bestimmt. Biotechnologie, Nanotechnologie und künstliche Intelligenz werden es dem Menschen bald ermöglichen, Lebewesen auf radikal neue Weise umzugestalten, was den eigentlichen Sinn des Lebens neu definieren wird. Wenn wir diese schöne neue Welt gestalten, sollten wir das Wohlergehen aller fühlenden Wesen berücksichtigen und nicht nur die des Homo sapiens.

 

https://www.theguardian.com/books/2015/sep/25/industrial-farming-one-worst-crimes-history-ethical-question