DR. MED.
HENRICH STIFTUNG
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Ein veganer Journalist berichtet: «Verschärfte Welt»

Da der Artikel hinter einer Bezahlschranke verborgen ist, hier die aus meiner Sicht interessantesten Aussagen:

 

«Vegan leben bedeutet, etwas weniger an der großen Zerstörung teilzunehmen und darum alltäglich etwas mehr von ihr wahrnehmen zu können. Und das wiederum verändert einen weitgehend – nicht nur mit Blick auf den Teller. Vegan, das hat sich herausgestellt, ist keine Diät, es ist ein heuristisches Verfahren, ein Blickwinkel.»

 

«Seit ich mich vegan ernähre, erst recht seit meinem Artikel von vor vier Jahren, ist für mich alles besser geworden. Ja, wirklich.»

 

«Nun gibt es beim Schreiben immer mal wieder diese größenwahnsinnigen Momente, in denen man glaubt – oder jedenfalls ich glaube –, man könne damit die Welt verändern. Allerdings, ernstlich anzunehmen, der Fleischkonsum der Menschen, und sei es auch nur jener der ZEIT-lesenden Menschen, ginge relevant zurück, weil man in einem Artikel recht freundlich dargelegt hat, wie falsch Fleisch essen und Milch trinken sind – das wäre dann doch arg kühn.»

 

«Ein Blick in die Statistik zeigt denn auch, dass der Verzehr tierischer Produkte in den vergangenen Jahren nur unwesentlich zurückgegangen ist.»

 

«Man muss kein Sherlock Holmes sein, um darauf zu kommen, warum beinah alle Menschen, denen ich begegne, »kaum noch Fleisch« essen, während die Statistik höhnt: Schön wär’s. Der Grund ist schlicht: Nicht die Gesellschaft hat sich in dieser Hinsicht stark verändert, sondern eher meine Position darin. Wer sich vegan ernährt, fällt in einer unveganen Welt – und um eine solche handelt es sich definitiv auch in Berlin – eben ständig auf.»

 

«Wer sich vegan ernährt, zieht darum nach wie vor die inneren Monologe vieler Leute auf sich zu den Themen Tierqual, Inkonsequenz, Recht auf Wurst, Genervtsein von Veganern und dergleichen. Vor allem mobilisieren Menschen, die ohne etwas vom Tier auszukommen versuchen, das schlechte Gewissen der anderen. Und mit dem schlechten Gewissen ist bekanntlich nicht gut Kirschen essen.»

 

«Entscheidend, auch für unser Zusammenleben, ist, dass im letzten halben Jahrzehnt die Kluft zwischen dem, was klimapolitisch getan wird, und dem, was getan werden müsste, um die Katastrophe ernstlich einzudämmen, noch größer geworden ist.»

 

«Es ist leider nicht mehr egal, ob jemand heute weniger Fleisch isst oder morgen, ob er oder sie morgen schon ganz aus dem »Nutztier«-Irrsinn aussteigt oder erst übermorgen. Übermorgen ist drei Grad.»

 

«Man kann neuerdings nicht mehr sagen: Der eine so, die andere so, lasst uns miteinander tolerant sein. Denn es ist halt nicht so leicht, tolerant zu sein, wenn jemand eine ungefähr gleichbleibend große Schneise der Verwüstung in den immer verwundeteren Planeten zieht, während man selbst ja nach wie vor auch noch viel zuviel anrichtet.»

 

«Wie stellen wir uns die eigene Zukunft vor unter der möglichen Frage unserer Kinder und Enkel »Was hast du eigentlich in den Zwanzigerjahren gemacht, als noch etwas zu retten war?«.»

 

«Wenn es nämlich stimmt, dass dieses Jahrzehnt ein ganz besonderes ist, wenn es stimmt, dass die Normalität längst suspendiert wurde, und wenn die existenzielle Krise im Mensch-Natur-Verhältnis schlimmer, womöglich bald unumkehrbar wird, dann kann man kaum noch so weitermachen wie bisher, auch nicht ungefähr, selbst wenn man es unbedingt will, denn dann polarisieren sich die Perspektiven: Entweder man verdrängt die ökologische Wirklichkeit immer massiver – oder aber man stellt sich selbst anders in diese Krise, wie in einen starken Wind, man widersteht.»

 

«Also entweder man ändert sein Leben, übersteigt den eigenen Rahmen, investiert relevante Teile seiner Zeit oder auch seines Renommees in den Einsatz gegen die Krisen, vor allem die des Klimas, und geht damit ins Risiko für sich selbst – oder man stolpert immer tiefer in die Verdrängung, die Zerstreuung und die Illusion, in ein immer aufwendigeres und am Ende neurotischeres Nichtwahrhabenwollen, ins Alles-halb-so-wild. Das ist gemeint mit der Alternative: ausbrechen oder durchdrehen. Oder alles Mögliche dazwischen. In diesem Dazwischen befinde ich mich natürlich auch. Vegan ist kein Universalschlüssel für das Leben in der Krise. Es öffnet allenfalls eine Tür von vielen.»

 

«Wenn nur einer in der Runde ist, der sich dem Normalitätsspiel verweigert, sich einfach nicht beteiligt, dann ist das ganze Spiel verdorben. Und zu diesen einen gehöre halt auch ich.»

 

«Das Alleinsein, um das es hier nun trotzdem gehen soll, ist von anderer Art, es ist weder intim, noch verschont es extrovertierte Menschen, es ist im Kern politisch, fühlt sich gleichwohl auch ganz persönlich zuweilen nicht so gut an.»

 

»Stört es dich, wenn ich in deiner Anwesenheit Fleisch esse?« Was soll ich dazu sagen? Schön ist es nicht, aber letztlich: »Das musst du mit deinem Gewissen ausmachen, nicht mit meinem.«

 

«Interessant ist auch die süß-saure Variante: Da begibt sich das Gegenüber dann in die Position dessen, der sich vielleicht, ganz vielleicht überzeugen lassen würde, wenn man ihm die Sache nur mal auf die richtige Weise nahebringt.»

 

«Macht vegan also einsam? Phasenweise war das tatsächlich mein Gefühl, und momentweise ist es das noch immer. Im Grundsatz aber stimmt es (für mich) nicht, aus zwei Gründen: Zum einen wächst, auch unter Freundinnen, Bekannten und Kolleginnen, das Netzwerk der Gutwilligen, der Ernstnehmer, derer, die etwas tun. Dieses Etwas kann ganz verschieden sein, vegan ist da nur eine Variante. Zum anderen tut sich in jüngster Zeit beim ökologischen Bewusstsein gewaltig etwas. Die Ballung der Krisen hat dazu geführt, dass immer weniger Menschen an die überkommene Normalität glauben; auch die Illusion, dass diese Gesellschaft sich ohne Verzicht erhalten und behaupten könnte, ist spätestens seit dem Ukraine-Krieg zerstoben. Menschen, die sich entfernt hatten, kommen zurück, nun selbst auf der Suche, wie man gegen diese ökologische Katastrophe anleben könnte, einige haben mich längst überholt. Langsam erweist sich, dass veganes Leben nicht zwingend bedeutet, sozial etwas draußen zu sein, sondern vielleicht nur – zeitweilig – etwas vorn.»

 

«Wer sich in den vergangenen Jahren ernstlich mit der existenziellen Krise im Mensch-Natur-Verhältnis beschäftigt hat, musste irgendwie damit fertigwerden, dass sich die Lage trotz allen Engagements, trotz aller Einsichten, trotz veganem Schinkenspicker bei Rewe verschlechtert hat. Wir laufen wirklich und wahrhaftig sehenden Auges auf einen Abgrund zu, eine wirkliche Wende ist noch nicht in Sicht. Wie geht man damit um?»

 

«Der letzte Punkt ist entscheidend, wenn man aus dem Teufelskreis von Hoffnung und Resignation, Tierliebe und Menschenverachtung aussteigen will: sich innerlich unabhängig zu machen vom Erfolg, den man gleichwohl mit aller, jedenfalls mit einiger Kraft anstrebt.»

 

«Das eigene Leben, die eigene Lebenshoffnung hängt nicht mehr so sehr vom Gegenüber ab, auch die Zuschreibung kann so aufgebrochen werden, weil ich nicht mehr theatralisch die Last der Klimawende auf mich nehme (Hilf mir!), sondern mit mir selbst einigermaßen in Übereinstimmung lebe (Mach, was du für richtig hältst!).»

 

«Aber ist diese ewige Verzichtlosigkeitspredigt nicht ohnehin total merkwürdig? In unserem normalen Leben als Erwachsene wissen wir alle, dass nichts von Belang ohne Verzicht möglich ist, keine Liebe, kein Kinderkriegen, kein gesunder Körper und kein beruflicher Erfolg. Nur die Selbstrettung der Menschheit vor ihrer eigenen Zerstörung, die soll ohne Verzicht möglich sein? Wie albern.»

 

«Dies gesagt, bleibt nach fünf Jahren veganer Lebensweise nur eines noch nachzutragen, ganz ohne Überzeugungsdruck, versteht sich: Es war eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Ich habe eine Wahl getroffen, ich fühle mich frei damit, bin gesund, schaue ohne Scheu auf die ökologische Wirklichkeit, ich kann den Tieren in die Augen sehen, es stimmt mich immer wieder euphorisch, es ist rundum herrlich. Aber klar: jede, wie sie meint.»

 

Anmerkung: Guter Artikel. Auch mir ist klar, dass ich die Welt nicht retten kann, ja dass die Welt nicht mehr zu retten ist. Aber das entbindet mich nicht von meiner moralischen Verpflichtung, für Tiere, Menschen, Umwelt und Klima einzutreten. Deshalb verhalte ich mich so, als ob mein Beitrag mithelfen könne, die Welt zu retten, ganz im Sinne von Ernesto Rafael Guevara de la Serna: «Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche.»

 

https://www.zeit.de/zeit-magazin/2022/31/veganismus-oekologische-krise-freundschaft-gesellschaft-umweltschutz