DR. MED.
HENRICH STIFTUNG
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Herausragend gutes Interview mit dem früheren Mitglied des bayerischen Ethikrats Prof. Dr. Christoph Lütge: «Im Grunde hat man die ganze Zeit versucht, Angst und Panik zu erzeugen»

«Deutschland sei in der Corona-Krise Richtung Autoritarismus abgebogen, kritisiert Christoph Lütge, früheres Mitglied im bayerischen Ethikrat. Dass es noch immer Maßnahmen gibt, hält er für riskant mit Blick in die Zukunft. Dem deutschen Ethikrat wirft er Versagen vor

 

«Statt verhältnismäßig zu handeln, hätten die Politik und die Institutionen in der Corona-Krise Panik geschürt, sagt Wirtschaftsinformatiker und Philosoph Christoph Lütge. Er musste im Februar 2021 den bayerischen Ethikrat verlassen, als er forderte, die Lockdowns in Deutschland auszusetzen und auf Schäden für Kinder hinwies. Man warf ihm außerdem vor, durch seine Äußerungen den Tod alter Menschen zu relativieren. Lütge lehrt Wirtschaftsethik an der Technischen Universität München.»

 

«Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern nahm man in Deutschland im Jahr 2021 kaum Beschränkungen zurück, sondern führte sogar noch 2G- bis hin zu 2G-Plus-Regeln sowie die höchst fragwürdige einrichtungsbezogene Impfpflicht ein. Dies sind tiefgreifende Einschränkungen. Das Ausschließen von Ungeimpften aus dem öffentlichen Leben geht ganz klar in eine totalitäre Richtung

 

«Was mich in Deutschland von Anfang an irritiert hat, war dieser Anspruch an eine Art kollektivistisches Denken. Das wurde formuliert von Politikern, aber auch von Medien und Wissenschaftlern, die alle jene, die auch nur leicht von der Linie abwichen, in extreme, meist rechte Ecken stellten. Ich kann mir dies darum nur mit einer rein politischen Sicht auf die Krise erklären, diese nicht beenden zu wollen, sondern den Zustand der Angst aufrechtzuerhalten

 

«Die Schlussfolgerung drängt sich auf, dass man sich irgendwann nicht mehr eingestehen konnte oder wollte, dass die Maßnahmen zum großen Teil überflüssig waren – und auch gleichzeitig viele andere Schäden erzeugten. Mein Eindruck ist, dass man sich dazu entschied, weiterzumachen, um sich nicht für Fehler rechtfertigen zu müssen. Solch eine Strategie bricht aber irgendwann unweigerlich zusammen. Und dort stehen wir jetzt.»

 

«Diese Erklärung mit dem Aspekt Sicherheit ist aus mehreren Gründen nicht haltbar. Denn es gab ja Kontrollgruppen in Form von anderen Ländern, an denen man sich hätte orientieren können und müssen. Dazu gehören natürlich Schweden und Florida, aber ab dem Frühsommer 2021 auch etwa England, Dänemark und weitere europäische Länder, die schon damals ihre Coronapolitik wesentlich liberalisierten, ohne dass es zur Katastrophe kam. Es war absolut unwissenschaftlich, dies nicht zu berücksichtigen. Dass also Lockdowns keinen Erfolg haben und dass der Effekt einer Maskenpflicht massiv überschätzt wird, hätte man zu diesem Zeitpunkt wissen und einbeziehen müssen. Wir hatten im Grunde die Daten nach dem ersten Lockdown 2020. Statistische Analysen zeigten, dass die Infektionszahlen nicht durch den Lockdown gesunken waren, sondern durch andere Faktoren, etwa Saisonalität. Dies wurde nach dem Lockdown 2021 noch einmal deutlich so bestätigt, unter anderem von Statistikern der LMU München. Und die Intensivstationen waren, abgesehen von lokalen Engpässen, in der Breite nicht an ihrer Belastungsgrenze. Das wurde ebenfalls bereits 2021 durch Studien wie das Schrappe-Papier belegt.»

 

«Die Corona-Politik anderswo kann ich mir nur mit politischen Gründen erklären, die aber nicht nur für Deutschland gelten. Die Beliebtheitswerte von regierenden Politikern stiegen zunächst in vielen Ländern in der Krise. Andere politische Fragen wurden an den Rand gedrängt. Besonders problematisch ist, dass die deutsche Politik nicht spätestens 2021 begann umzusteuern, sondern das Land immer weiter in die Krise verstrickte.»

 

«Deutschland ist zum Geisterfahrer geworden. Mit wenigen Ausnahmen hat der Rest von Europa, ausgehend vom Februar bis zuletzt Italien im Oktober praktisch so gut wie keine Maßnahmen mehr, insbesondere keine Maskenpflicht. In Deutschland behauptet der Gesundheitsminister aber immer noch, dass Gefahr durch das Virus drohe. Man sucht Rechtfertigungen dafür, warum gewisse Maßnahmen beibehalten werden, so auch bei der Rechtfertigung für die letzte Verlängerung des Infektionsschutzgesetzes im September: da wurde, auch vom FDP-Justizminister, behauptet, andere Länder planten Ähnliches – was schlicht nicht stimmt. Als Fazit bleibt: Die Ratio für politische Entscheidungen wurde ausgeschaltet. Und genau das halte ich für gefährlich.»

 

«Wenn wir Dinge ohne rationale Begründung und Verhältnismäßigkeit durchsetzen, ist es nicht ausgeschlossen, dass wir dies auch in Zukunft tun. So läuft es beispielsweise immer noch bei der Maskenpflicht in Zügen, die praktisch im gesamten restlichen Europa nicht mehr gilt. Wenn eine Regel am Ende nur noch damit begründet wird, dass es sie nun mal gebe, dann kann man im Grunde in Zukunft regieren, wie es einem beliebt. Man muss doch fragen: warum verhält sich das unmittelbare Ausland komplett anders? Haben die ein anderes Virus? Gerade bei einer Pandemie muss es eine rationale und verhältnismäßige Begründung für das eigene Handeln geben. Fehlt diese, dann können jegliche autoritäre Maßnahmen gerechtfertigt werden. An dem Punkt befinden wir uns in Deutschland immer noch.»

 

«Denn spätestens Anfang 2022 konnte man wie andere Länder die Corona-Krise aus gesundheitspolitischer Perspektive für beendet erklären. Dennoch brachen die Regierungsparteien das im Wahlkampf gegebene Versprechen, wonach die letzten Maßnahmen im März 2022 fallen sollten. Spätestens hier hätte man den Ausweg finden müssen, doch tatsächlich glitt man weiter in Autoritarismus ab. Wenn die Ratio bei politischen Entscheidungen in den Hintergrund tritt, entsteht Vertrauensverlust – und die öffentliche Diskussion wird auch nicht befriedet, sondern im Gegenteil dauert sie immer weiter an und behindert die Beschäftigung mit wesentlich drängenderen Problemen.»

 

«Wir haben in der Corona-Krise viel vom Kernbestand der Demokratie aufgegeben. Wenn man sich daran erinnert, dass das Sitzen auf einer Parkbank verboten war, dass scharfe Ausgangssperren wie in Bayern verhängt wurden, dass der Impfstatus über Grundrechte entschied, dann sind das nicht nur unverhältnismäßige und ethisch fragwürdige Regeln, sondern verfassungswidrige Eingriffe. Das Bundesverfassungsgericht mit seinem jetzigen Präsidenten weigert sich bis heute, das anzuerkennen und den eigenen Fehlern ins Auge zu sehen. Es beschädigt damit die gesamte Demokratie, in der sich doch die Gewalten gegenseitig kontrollieren sollen. Und ich halte es seither für schwierig, anderen Ländern Autoritarismus vorzuwerfen.»

 

«Ich glaube, dass durch die schwerwiegenden und lange andauernden Eingriffe eine Art Trauma entstanden ist, was nicht unbedingt gleich danach in der Breite sichtbar werden muss. Wenn die jüngere Generation älter wird und sich traut, darüber zu sprechen, wird es noch stärker zutage treten. Im Grunde hat man versucht, Angst und Panik zu erzeugen. Das werfe ich der Politik auch ausdrücklich vor. Angst bewirkt höchstens, dass viele Menschen folgsam sind. Sie ist auf Dauer aber kontraproduktiv.»

 

«Diese Politik gegen Kinder werfe ich insbesondere dem amtierenden Gesundheitsminister und seiner Angstrhetorik vor, hier sind andere Länder – in Theorie und Praxis – anders vorgegangen. Die Schulen waren bei uns zunächst 2020 monatelang geschlossen, und zwar viel länger als in anderen Ländern. Aber dann ging es weiter: Dass Kinder mit Masken im Unterricht sitzen, mag für einige kein Problem ist, für viele andere aber schon. Ich weiß von Kindern im Grundschulalter, die Suizidgedanken geäußert haben, als es nach der Isolation weiterging mit Tests und Masken – und dies auch immer wieder verlängert wurde,……… Es geht nicht nur um die Folgen von Lockdown oder Kontaktsperre, nein, ich bin überzeugt davon, dass sich gerade die dauerhafte Kontrollmentalität traumatisierend auf Kinder ausgewirkt hat.»

 

«Die Angst vor Infektionen und davor, dass Kinder anderen schaden können, wurde von der Politik und von den Institutionen ausgelöst. Man hat einen Teil der Eltern hineingetrieben, obwohl man hätte wissen müssen, dass man sie in Konflikte bringt.»

 

«Die Kinder sind unsere Zukunft. Und genau diese Fragen intensiv zu diskutieren, wäre eigentlich Aufgabe des Ethikrates gewesen. Und auch, auf falsche Abwägungen der Politik hinzuweisen und zu sagen: Wir fahren eine ganze Generation an die Wand. Hier hat der Ethikrat – wie übrigens auch die Kirchen – versagt und Schuld auf sich geladen.»

 

«Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass es spätestens seit Anfang 2021 ausreichend Hinweise auf die negativen Folgen der Corona-Politik für Kinder und Jugendliche gab. Nur wenn man aus Fehlern lernt, kann man hoffen, sie nicht zu wiederholen. Gleiches gilt für andere Institutionen wie Medien oder Justiz.»

 

«Ein Ethikrat hätte auch, und gerade in einer Krise, die Aufgabe gehabt, gegenüber der Politik – neben Verhältnismäßigkeit und Risikoabwägung – andere wesentliche Elemente der Demokratie wie die Einhaltung von Meinungsfreiheit und Pluralismus einzufordern. Stattdessen wurden Kritiker durchweg in bestimmte Ecken gestellt und versucht mundtot zu machen. Nicht nur, was Kinder und Jugendliche betrifft. Und spätestens jetzt, wenn deutlich wird, dass die Kritiker in vielem Recht hatten, hat sich ein solches Gremium völlig unglaubwürdig gemacht. Der größte Fehler ist aus meiner Sicht, dass man sich unbesehen an die politische Linie angeschlossen hat, das war im bayerischen Ethikrat genauso der Fall wie im deutschen Ethikrat.»

 

«Wenn ich mich nur auf meine gute Absicht berufe, dann ist das sehr problematisch. Es war eben nicht gut und richtig, was in der Corona-Krise gemacht wurde. Beispielsweise muss ich auch für meine Absicht, bestimmte Gruppen schützen zu wollen, rückwirkend erklären, warum andere – wie eben die Kinder – ausgeblendet wurden. Zumal es schon früh Hinweise gab, dies nicht zu tun. Ich werfe den politischen Entscheidungsträgern vor, in welcher Absicht auch immer schwere Kollateralschäden erzeugt zu haben. Letztlich ist etwas Monströses geschehen

 

«Wir müssen die Aufarbeitung der Fehler gründlich angehen. Auf keinen Fall dürfen wir einfach sagen: Wir sind hier durchgekommen, und jetzt sehen wir nach vorn. Denn dann kann so etwas wieder passieren. Auch Länder wie Schweden haben anfangs Fehler gemacht, aber sie haben es noch 2020 geschafft, sich zu korrigieren.»

 

«Eigentlich ist es – gerade wenn man wissenschaftlich vorgehen will – recht einfach. Wir müssen nur ohne ideologische Scheuklappen, auf die Kontrollgruppe Schweden schauen und bereit sein, anzuerkennen, was dort besser lief. Sie sind besser durch die Pandemie gekommen, sie haben schon seit Sommer 2020 geringere Todeszahlen als Deutschland, sie haben ihre Kinder und Jugendlichen in Ruhe gelassen, und sie haben den gesellschaftlichen Frieden, der in Deutschland doch so gerne herausgestellt wird, weitestgehend erhalten können. Und das ohne tiefgreifende Maßnahmen wie Maskenpflicht, 2G oder Lockdowns. Die Schweden haben es vermieden, ihre Gesellschaft fundamental zu spalten. Daraus müsste man doch lernen können und wollen. Am Ende dieser Aufarbeitung, welche auch die Rolle der Rechtsprechung, der Wissenschaft und der Medien betrifft, sollten institutionelle Veränderungen stehen. Neben einem veränderten Bewusstsein für die verantwortungsvolle Abwägung von Risiken braucht es aus meiner Sicht auch eine Änderung der demokratischen Kontrollmechanismen, um Vertrauen wiederherzustellen.»

 

Anmerkung: Ein wirklich aussergewöhnlich gutes Interview, dessen Aussagen ich vollumfänglich zustimme!

 

https://www.welt.de/politik/plus242456881/Ethikrat-und-Corona-Im-Grunde-hat-man-versucht-Angst-und-Panik-zu-erzeugen.html